Weihe und Erhebung der Glocken

Montag, den 16. Dezember 2002 um 22:00 Uhr
Drucken
Die offizielle Mitteilung um einiges ergänzt
“Am Sonntag, dem 1. Dezember, – so lautete unsere offizielle Mitteilung, - fand an der Kathedralkirche zu Ehren der Hll. Neumärtyrer und Bekenner Rußlands in München die Weihe der 13 Glocken statt, die daraufhin auf den Glockenturm erhoben wurden.
Download
Als im Jahre 1999 mit dem Bau des Turmes begonnen wurde, war noch völlig unklar, wann es möglich sein würde, Glocken für den Turm zu erwerben. Nur eines war klar: der Bau würde sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel verschlingen. Als der Rohbau stand erhielt Erzpriester Nikolai Artemoff jedoch die Mitteilung, daß der Nachlaß von einer vor kurzem verstorbenen Frau, die langjähriges Gemeindemitglied war, von ihr für den Erwerb von Glocken bestimmt wurde. Der Gemeinderat beschloß daraufhin die Glocken in Rußland zu bestellen, ungeachtet der verschiedenen zu befürchtenden Schwierigkeiten, verglichen mit einem Einkauf in Deutschland, wo bereits aus der bekannten Glockengießerei Bachert (Heilbronn) für die Stuttgarter Kirche Glocken geliefert und befestigt worden waren. Vater Nikolai fuhr nach Rußland und erkundete vor Ort die Perspektiven. Man entschied sich für die Glockengießerei der Gebrüder Schuwalow in Romanow-Borisoglebsk (Tutajew) im Gebiet von Jaroslawl. Nach langwierigen Vorbereitungen wurden dort die Glocken für die Münchner Kathedrale gegossen. Die größte der Glocken - die Künderin - wiegt 100 Pud (1.760 kg) und ist etwa anderthalb Meter breit und hoch. Sie trägt die Ikonen des “Acheiropoeton” (das nicht von Menschenhand geschaffene Christusbild), der Gottesmutter von Kazan, des Hl. Nikolaus und des Hl. Patriarchen Tichon.
Die Aufschrift bezeichnet Ort und Jahr der Herstellung von 12 Glocken durch die Brüder Schuwalow “durch den liebevollen Einsatz der Diener Gottes Boris und Eudokia”. Auf den weiteren großen Glocken sind die Ikonen der Neumärtyrer Wladimir von Kiew, Benjamin und Josef von Petrograd, Peter von Krutizy und Kyrill von Kazan, sowie des Märtyrer-Zaren Nikolaus II. Die Polyeleos-Glocke wiegt 830 kg und ist 110 cm hoch und breit. Die zwei Doxologen wiegen 530 und 420 kg. Weitere vier unterklingende Glocken sind von 220 kg bis 52 kg schwer, die vier hochklingenden – von 28 bis 8 kg. Für die obere Etage des Turmes wurde zusätzlich ein Doxologe mit 320 kg und 95 cm. gegossen, der separat klingt und geläutet werden sollte, falls kein Glöckner da ist.”
So weit die bereits publizierte offizielle Mitteilung. Nun aber ganz ehrlich, wie es wirklich war:
Tatsächlich wurde der Glockenturm ursprünglich und nach dem Kostenvoranschlag der Firma Bachert für 9 Glocken geplant, wobei die größte “nur” 1100 kg wiegen sollte. All das wurde schon erforscht, als der Glockenturm noch nicht gebaut und keine Rede vom Nachlaß war. Etwas später kam Igor Wassiljewitsch Konowalow, Vorsitzender der Moskauer Glöckner-Gemeinschaft und Hauptglöckner der Erlöser-Kathedrale in Moskau wegen des Stuttgarter Glockenturmes nach Deutschland. Wir holten ihn auch nach München. Unterwegs im Zug stellte er die Frage: “Und wann gedenkt ihr die Glocken zu gießen?” Zu diesem Zeitpunkt wurde gerade eben mal das Fundament für den Glockenturm gegossen. Die Antwort war entsprechend: “Na ja, erst müssen wir den Glockenturm fertigbauen, und dann sehen wir weiter. Fünf Jahre werden wohl ins Land gehen, oder drei, aber nicht weniger... Das Geld muß gesammelt werden. Also je nach dem.” Igor Wassiljewitsch lächelte zu dieser Antwort und meinte nur: “Mit Glocken nimmt das für gewöhnlich andere Wege. Der Bodenbelag, das ist etwas anderes, aber bei Glocken, da muß man sich auf allerlei Wunder gefaßt machen!” Freilich muß man beim Kirchenbau immer auf Wunder gefaßt sein, auch beim Fußboden, aber in diesem Fall bewahrheiteten sich die Worte des Glöckners voll und ganz. Als ich dann Igor Wassiljewitsch in Moskau anrief und ihm vermeldete: “Das Geld ist da, wir können gießen!” da antwortete dieser mit einem ruhigen: “Sehen Sie, Väterchen, habe ich Ihnen doch gesagt, es gibt Wunder. Das ist gewöhnlich so”.

Eine Weile später bei einem meiner ständigen Gespräche mit Rußland schlug Igor Wassiljewitsch vor: “Wie wär’s denn mit einem Hundert-Pudi für euch?” Das altrussische Maß “Pud” bedeutet 17,6 kg, zärtlich ist die Verkleinerung “Sto-Pudowik” und Glocke – “kolokol” – ist im Russischen männlich. Überschlage also den Preis im Kopf, der Stahlträger ist für drei Tonnen ausgelegt, Reserve haben wir. “Gut, ein Hundert-Pudi soll es sein!” Eine Glocke von Hundert-Pud – also 1760 kg und somit etwa 176 cm. Aber irgendwie war es so russisch (auch rein sprachlich) verlockend, ein für allemal einen “Sto-Pudowik” hochzuhieven und zu läuten.

Nun ist das Glockengießen in Rußland zwar an alten Vorbildern orientiert, aber doch etwas Neues, die Erfahrungen werden dort gerade neu gemacht. Als wir bei Bacherts zu Besuch waren, hatte die Firma gerade eine 8-Tonnen Glocke für Sankt-Michael in Hamburg gegossen, während die Schuwalows bei Jaroslawl einfach eine ehemalige Kolchosen-Reparaturwerkstatt zur Glockengießerei umgerüstet haben und in einem Nebengebäude die Lehmformen für die Glocken herstellen. Natürlich fiel die Wahl auf die Schuwalows nicht von ungefähr, es wurden auch andere Möglichkeiten geprüft. Aber alles deutete auf die Schuwalows als die beste Variante. Eine russische Giesserei hatte sogar geantwortet, daß sie unsere Wünsche nicht befriedigen könnte, und empfahl selbst die Brüder Schuwalow. Dennoch war es etwas Neues für die Schuwalows, eine einhundert Pud schwere Glocke zu gießen. Deshalb gossen sie erst eine solche Glocke für eine andere Kirche und eine zweite für uns. So kam es zu einer ersten, und nicht gerade kleinen Verzögerung als bereits der ganze Satz an Texten und Ikonen hingeschickt worden war.

Nach Absprache waren die Texte nicht in kirchenslawischer Schrift nach Rußland gesandt worden, sondern in gewöhnlichen russischen Buchstaben mit dem Hinweis, welche Verse den letzten Lobespsalmen (148-150) entnommen werden sollten. Es sollte nicht schwierig sein, die entsprechenden Stellen aus einem kirchenslawischen Psalter zu kopieren, aber plötzlich verlangte Igor Wassiljewitsch, daß wir die gesamte Schrift selbst in Kirchenslawisch zusenden sollten. Nachdem dies geschehen war, folgte langes Schweigen. Indes, etwas bewegte sich, und schließlich erfuhr ich, daß die vorgesehene Ikone der Gottesmutter von Iveron auch eine Schwierigkeit darstellt, wenn man die Gottesmutter von Kazan nehmen könnte, wäre der Guß der Glocke alsbald möglich, statt noch zwei Monate zu warten (ich dachte in mir, wenn jetzt von zwei Monaten die Rede ist, wie lange wird es wirklich dauern?). So kam es zum Entschluß für die Gottesmutter von Kazan. Und plötzlich traf ein Fax von Igor Wassiljewitsch ein, daß er sich nicht weiter mit unseren Glocken beschäftigen würde. Wieder die Nerven in Hochspannung und heiße Telefonleitungen vor der Sitzung des Gemeinderates. Es stellte sich heraus, daß innerrussische Probleme auf uns übergeschwappt sind. Mit dem Entschluß, die Glocken in Rußland zu bestellen, waren wir auch auf diverse Überraschungen gefaßt. Und doch muß man sagen, solche Überraschungen gab es, Gott sei Dank, weniger, als es hätte geben können. Aber doch gab es Momente, die an den Nerven zehrten.

Macht nichts – wir fanden wieder Bodenkontakt.

Anfänglich waren alle Absprachen mündlicher Art, aber als es Zeit wurde den Vertrag juristisch zu fassen, konnte der nach russischem Schema verfaßte Vertrag nicht befriedigen. Zum Glück fand sich ein Gemeindemitglied mit russischer juristischer Ausbildung, der den Weg zu einem Rechtsanwaltsbüro in Moskau eröffnete. So wurde der Vertrag in Übereinstimmung mit allen uns betreffenden Normen und Besonderheiten umgeschrieben. Die Firma “Italmas”, sprich: die Brüder Schuwalow, nahm sämtliche Bedingungen des neuen Vertrags an.

Im Sommer 2002 waren also die großen vier Glocken gegossen. Sie wurden bei der Glockenausstellung in Jaroslawl aufgehängt und gespielt. Maria Tervo, die Glöcknerin von Stuttgart, hatte sie gesehen und gehört. Von verschiedenen Seiten hörten wir lobende Stimmen über diese vier Glocken. Aber es waren ja noch die anderen auszuwählen. Valerij Kaschliaev, der von Kindheit an eine musikalische Ausbildung in Rußland genoß und jetzt Dirigent des Kölner Kirchenchores ist, fuhr nach Jaroslawl. Gleichzeitig fuhr auch Alexander Roloff nach Rußland mit dem Auftrag das Glockenspiel zu erlernen, war er doch vor nicht so langer Zeit noch professioneller Schlagzeuger.

Valerij Kaschliaev kam zurück und vermeldete, es wäre besser, erst noch zusätzliche kleinere Glocken zu gießen, damit die Auswahlmöglichkeiten größer würden. Nun wurden auch die ersten Teilbeträge nach Rußland, gemäß den im Vertrag vorgesehen Summen losgeschickt. Die Geldüberweisungen nach Rußland stellten kein Problem dar.

Noch ein Monat ging ins Land und weitere kleine Glocken waren gegossen. Wieder flog V. Kaschliaev nach Rußland und endlich hatten wir “grünes Licht”. Die Auswahl ist getroffen.

Wir fürchteten Schwierigkeiten beim Zoll. Aber da gab es keine Riffe, an denen wir hätten zerschellen können. Außerdem übernahmen die Brüder Schuwalow alles, was den russischen Zoll betraf. Die einzige Unbequemlichkeit war, daß wir wegen der Verzögerungen mehrmals die Dokumentation neu präsentieren mußten, was allerdings durchaus rechtmäßig war: wenn zum 15. September geliefert werden sollte, dann muß man den Vertrag mit neuen Lieferzeiten vorlegen, zum 15. Oktober, zum 15. November... Was die deutsche Seite betraf, so war von Anbeginn klar, daß die 16% Einfuhrzoll nicht reduziert werden können, und daß alles am Einfuhrtag geregelt werden muß. Immerhin brauchten wir nicht nach Frankfurt an der Oder zu fahren. Alles konnte im Hauptzollamt in München erledigt werden.

Der Transport selbst brachte schon eher Kopf- und Bauchschmerzen ein. Auch hier hätte man eine deutsche Firma beauftragen können. Aber einerseits wäre dies wesentlich teurer gekommen, und andererseits hatten wir auch hier die gleiche Überlegung: wenn möglich, denen zu helfen, die in Rußland versuchen, auf eigenen Beinen zu stehen. Und so blieb auch wieder alles im Bekanntenkreis der Gemeinde. Aus vier verschiedenen Optionen wählten wir die Firma “Alpha” aus Sankt-Petersburg, die außer dem preislichen auch noch den Vorteil hatte, daß sie von einem Bekannten unseres Gemeindemitglieds geleitet wird und regelmäßig nach Deutschland und über Österreich nach Italien fährt. So kam das Vorgespräch hier in Deutschland persönlich zustande. Aber als es um Papierfragen ging, da begannen die Probleme. Unsere Faxe nach Sankt-Petersburg blieben unbeantwortet, die Firma ist winzig, und der Chef fährt selbst, immer wieder sind seine europäischen und russischen Mobiltelefone ausgeschaltet oder er verschwindet in Funklöchern auf Dauer.

Die Firma “Alpha” hatte zwar die notwendige internationale Standardversicherung CRF, aber was bedeutete das? Wie sich herausstellte, wären so zehn Prozent des Gesamtwertes abgesichert und auch das nur, wenn den Fahrer kein Verschulden trifft. Für solche einmaligen Glocken - 10%, das war etwas wenig! Eine vollständige Absicherung wurde erst nach intensiver Suche einer entsprechenden Versicherung im Internet möglich, nach Klärung aller Fragen zwischen uns, der Firma “Alpha” und der Versicherung. Das konnte wirklich erst am letzten Tag vollendet werden, ebenso wie die Unterschrift unter dem Vertrag mit der Transportfirma fast in letzter Minute gekommen war. Da war es nötig, sich an eine andere Lebensauffassung anzupassen, die da lautet: “Was ist denn? Wir haben doch gesagt, daß wir transportieren. Also ist alles in Ordnung!”

Nun gab es mehrere Gespräche zum Mobiltelefon der Schuwalows anläßlich der letzten Momente im russischen Zoll, und schließlich kam das Signal, der Lastzug hat den Zoll verlassen und ist auf dem Weg nach Westen. Zwei lange Tage Funkstille. Dann die Information: Polen wird durchquert. Schließlich die Kurzmitteilung auf Mobiltelefon (SMS): “Stehe am Zoll in Frankfurt”. Zwei-drei Stunden Später: “Fahre hinein nach Deutschland”. Und bald darauf der Anruf: “Wieviele Kilometer sind es denn von Berlin nach München?”
Am Morgen des 6. November 2002 fuhr der riesige Lastzug, in dem auf Holzpaletten unsere Glocken befestigt waren, auf den Parkplatz am Ende der Stuttgarter Autobahn vor München ein und wurde von Mönch Georgij (Rustschak) begrüßt, da das Kloster in der Nähe ist. Vater Georgij leitete den Lastwagen zum Hauptzollamt, wo auch Gregor Kobro und ich (mit den Stempeln der Diözesanverwaltung) eintrafen. Den ganzen Morgen dauerte die Prüfung und Verzollung. Das Ausfüllen der Antragsformulare ist nicht gerade einfach. Der Beamte darf nicht helfen. Der Antrag muß in allen Punkten richtig ausgefüllt sein, sonst darf er nicht angenommen werden. Da soll sich einer zurechtfinden! Immerhin gibt es ein Büro, das darauf spezialisiert ist, Fragen zu beantworten und Unterstützung beim Ausfüllen zu leisten. Aber auch dort wurde mehrfach das eine oder andere übersehen. Als kleines Beispiel sei erwähnt, daß nicht nur die Glocken, sondern auch die Transportkosten verzollt werden. Aber natürlich nur der inländische Anteil der Transportkosten, nicht die Kilometer bis Weißrußland und durch Polen. Hinzu kommen noch die Fragen, wo man Kreuzchen, Nullen und Zahlen einsetzen muß, die irgendwelchen europäischen Normen entsprechen, welche auf diesen Transport anzuwenden sind. Wir jedenfalls transportierten Glocken zum ersten Mal im Leben. Und dann kam doch der Moment, wo es der Beamte leid war, oder wir ihm leid taten - er legte den Zeigefinger auf die entsprechenden Punkte, so daß die letzten Nullen und Einser endgültig eingesetzt waren. Geschafft! Es blieb nur noch die Barzahlung des Zolls an der Kasse.

Ein unbeschreibliches Gefühl war es, unsere “Titanic” auf den Mittleren Ring zu geleiten, und sie folgte brav zur Kathedrale. Ist es wirklich wahr? Sind sie wirklich da, unsere Glocken? Jeder Blick in den Rückspiegel brachte ein Siegesgefühl mit sich: es ist Realität.

Aber da waren noch andere Dinge. So stellte sich im Vorfeld die Frage, ob man zum Entladen einen Kran braucht. Die Schuwalows empfahlen es, aber das wäre aufwendig und teuer geworden. Also hofften wir auf unsere Nachbarn, die Bauarbeiter. In der ehemaligen amerikanischen Siedlung werden die Häuser zeilenweise renoviert, und wir hatten stets gute Beziehungen zu den Bauarbeitern, mit denen die eine oder andere Frage schon bei den früheren Arbeiten an unserer Kirche besprochen werden konnte. Sie informierten sich auch von Zeit zu Zeit, wie es denn mit den Glocken steht, und wir hielten sie auf dem Laufenden. An diesem Tag, vor der Abfahrt zum Hauptzollamt paßte ich den Fahrer eines Spezialfahrzeugs ab, das sowohl als Bulldozer, als auch als Gabelstapler eingesetzt werden kann. Ich fragte ihn, ob er nicht bei der Entladung der Glocken helfen könnte, wenn sie eintreffen, und er antwortete: “Gehen Sie zum Chef, dort im gelben Container, wenn er es erlaubt - kein Problem!” Ich ging also in den Hof, der aus über zwanzig in zwei Etagen gestapelten gelben Containern besteht. In einem geöffneten Container unterhalten sich zwei ältere solide Männer. “Die Glocken sind da, - sage ich also, - kann uns das Spezialfahrzeug technisch bei der Entladung behilflich sein?” Nach einem kurzen Blickwechsel bestätigten die beiden: Warum nicht? Klar, kann er helfen! - So fuhr ich getröstet zum Hauptzollamt, und als wir vor der Kirche angekommen waren, lief ich zum Fahrer mit den Worten: “Der Chef hat es erlaubt. Und die Glocken sind da”. Er sagte lediglich, er müsse statt der Schaufel die Gabel einsetzen, mit der die Paletten gehoben werden könnten, und merkte nur an, daß er wohl noch nie über zwei Tonnen mit der Gabel gehoben habe, aber man werde ja sehen. In der Zwischenzeit hoben wir die Plane am Lastzug. Der Fahrer kam mit seinem Spezialfahrzeug, und gerade als er vor dem Lastzug gewendet hatte, sah er ein Auto kommen und sagte zu mir: “Da ist der Chef!” Ich schaue hin und verstehe: Nein, nicht mit diesem jungen Mann, der jetzt im glänzenden Auto per Mobiltelefon etwas bespricht, habe ich heute morgen über die Hilfeleistung geredet... “Wenn das der Chef ist, dann habe ich heute morgen mit jemandem anderen gesprochen”. Der Moment der Verlegenheit zog sich in die Länge. Alle warteten auf den Chef, der noch mehrere Minuten im Auto sein Telefongespräch führte und uns von Zeit zu Zeit fragend anblickte. Dann steig er aus und wandte sich an den Arbeiter, was er denn hier mache. Es begannen langwierige Erklärungen, unter anderem über die mißliche Verwechslung, Erklärungen, die meinem Gefühl nach zu nichts anderem als einem traurigen Ende führen konnten. Aber am Ende zeigte der Chef Verständnis und war bereit zu helfen. Nur hatten wir in der Zwischenzeit festgestellt, daß die Glocken von der Krone zu den beiden Rändern der Plattform mit nahezu fingerdickem Draht festgezurrt waren, der in sich verdreht war wie ein Zopf. Also sagte ich hoffnungsvoll: “Wir sollten auch diese Drähte irgendwie kappen...”, worauf der Chef nur erwiderte: “Jetzt wird’s aber aufwendig!” Da waren wir also gezwungen zu sagen, in einer halben Stunde wären wir wohl so weit. So fuhr der Chef davon und nach ihm unser Helfer, der Arbeiter.

In solcher Vereinsamung blickten wir einander an - unser Lastwagenfahrer Jura, Wladimir Wetzel, Vadim Jessikovski und Tamara Sikojev, die gerade mit der Ausmalung in der Kathedrale beschäftigt und herausgekommen war. Vadim ging auf die Suche nach einer Metallsäge. Die Suche war erfolgreich, nur war die Säge winzig. Andere versuchten den dicken Draht aufzuzwirbeln, aber hier fiel auch das Wort, der Draht werde sich wieder verdrehen (was sich im übrigen nicht bestätigte). Mit vereinten Kräften gelang es in etwa einer Viertelstunde zwei Drähte zu öffnen, während Vadim und Tamara abwechselnd mit der winzigen Säge am dritten sägten mit gelegentlichen freudigen Ausrufen: “Sie sägt!” Irgendwie mußte ich an unsere Nachbarn im Stadelheimer Gefängnis jenseits des Friedhofes, der an die Kathedrale anschließt, denken - und alsbald überwältigte mich der Zweifel, ob die kleine Säge wohl einem zweiten Draht standhalten werde. So war die Situation nicht gerade erhebend, als plötzlich der Arbeiter erschien mit einer metergroßen Zange. In wenigen Sekunden waren sämtliche Stahldrähte gekappt und es begann die Entladung. Vielleicht zehn Minuten dauerte es, bis alle Glocken in einer Reihe vor der Kirche auf dem Hof standen.

Nun wieder zur Presseerklärung:

“Endlich, am 6. November 2002, kamen die 13 Glocken mit einem Lastzug nach München und wurden am gleichen Tag verzollt und entladen. Die kleinen Glocken waren nach dem Prinzip russischer Matrjoschka-Puppen unter den grossen verborgen, so daß auf dem Kirchenhof vier Holzpyramiden standen, aus denen oben nur die Krone der jeweils größten Glocke zu sehen war. Das Holz war mit Aufschriften versehen über Absende- und Ankunftsort, Gewicht des Inhalts u.s.w. Erst am Tag der Weihe wurden die Holzverkleidungen heruntergenommen.

Bei der Gemeinderatssitzung am 26.11. war zwar nicht sicher, ob es gelingen werde, die Befestigungen für die Glocken zu erstellen und einen Kran zu bekommen, aber die Mitglieder des Rates bestanden darauf, daß die Weihe nicht nur an einem Sonntag stattfinden sollte, sondern es sollten auch Erzbischof Mark und Erzpriester Nikolai beide zugegen sein. Im Dezember gab es nur zwei solche Tage: der 1. und der 28. Da aber am 26. Dezember zum “Orthodoxen Treffen” der bekannte Jaroslawler Glöckner Vladimir Degtjarow erwartet wurde, mußte die Glockenweihe auf den 1. Dezember gelegt werden in der Hoffnung, es werde gelingen die Glocken am gleichen Tag zu heben und zu befestigen”.

Ganz ehrlich: wie es wirklich war...

Wie sollte man denn mit den Glockenbefestigungen vorgehen? Während ich in Moskau an der Konferenz “Geschichte der Russischen Kirche im XX. Jahrhundert” teilnahm, wandte sich der Gemeinderat an zwei Glockenfirmen. Die Kostenvoranschläge waren umfänglich –über 2000 Euro, außerdem würde man unter Umständen sechs Wochen warten müssen. Vor der abendlichen Gemeinderatssitzung des 26.11. kam morgens sogar ein Vertreter der Passauer Glockengiesserei, die vor 8 Jahren die Glocken in das Andreas-Kloster in Moskau lieferte. Interessanterweise befindet sich gerade in diesem Kloster jetzt die Synodal-Bibliothek und ausgerechnet dort fanden die Sitzungen der erwähnten historischen Konferenz statt, so daß mir die Passauer Produktion bereits von Moskau her bekannt war und ich auf den Fotos, die uns der Meister im Kirchenhof von der Glockenweihe in Moskau zeigte, bereits vertraute Dinge sah. In Moskau aber lachten wir herzlich darüber, als ich dem Bibliotheksleiter, Erzpriester Boris Danilenko, von den auf unserem Glockenturm bevorstehenden Ereignissen erzählte: Wir schleppen Glocken aus Jaroslawl an, sie aber bestellen die Glocken bei unseren Nachbarn in Passau!

Die deutschen Befestigungen aus der Passauer Produktion waren natürlich überaus solide und geradezu genial. Aber sie waren teuer und kämen zu spät. Außerdem schwingen ja die Glocken in Deutschland bekanntlich, während die russischen Glocken unbeweglich bleiben. Brauchten wir überhaupt solche für doppelte und dreifache Belastungen ausgelegte Befestigungen? Hier also kamen der Mönch Georgij (Rustschak), dessen Hände nicht zuletzt den Glockenturm hochgezogen haben, und Valerij Jurtschenko zum Zuge, die sich in den Tagen davor auch kundig gemacht hatten. Sie konnten deshalb umgehend nach dem Beschluß des Gemeinderats 26 Stahlbänder verschiedener Maße je nach Glockengröße mit Bohrungen an den entsprechenden Stellen ordern und die benötigten Stifte, Schrauben, Muttern u.s.w. Das Material kostete nur ein Fünftel oder Sechstel der vorliegenden Kostenvoranschläge und war am Samstag vor der Weihe fertig, so daß am Nachmittag die Anpassung vorgenommen werden konnte.

Der Kranführer, Pavel Smirnow, kam auch schon mit seinem elfjährigen Sohn German vorbei, um sich anzusehen, wie er den Präzisionskran an der Kirche positionieren muß, um die Glocken zu heben.

Außerdem war sofort nach dem Gemeinderatsbeschluß, am 1. Dezember in jedem Fall die Weihe zu vollziehen, die Einladung verschiedenster Vertreter des öffentlichen und kirchlichen Lebens fällig...

Wie sollten die Glocken verteilt werden? Was die größte betraf, so war alles klar – sie mußte im Südteil, wo der größte Platz vorgesehen war, hängen, aber die anderen? Zuvor war ja der Plan der Glockenebene nach Moskau gesandt worden, jetzt folgten nahezu panikartige Telefonate nach Moskau. Zu guter Letzt kam am Samstag morgen, also einen Tag vor der Weihe und eine halbe Stunde vor Beginn von Taufen, ein Fax aus Moskau mit der Aufschrift “Aufhängung der Glocken...”. Mir fiel sofort auf, daß die größte Glocke nicht im großen (südlichen) Zwischenraum vorgesehehen war. Was war da geschehen? In wunderschönen Buchstaben war da “Osten” geschrieben, wo ich bei der Absendung nach Moskau “Eingang” geschrieben hatte. Ich dachte dabei an den Zugang zur Glockenebene, damit klar ist, wo der Glöckner hereinkommt und somit der Zugang frei bleiben muß. In Moskau war der Eingang als Eingang in die Kirche gedeutet worden, somit als Osten, während es in Wirklichkeit der Westen war. Mit anderen Worten, der Plan war seitenverkehrt. Zum Glück kam das Telefongespräch sofort zustande und alles konnte geklärt werden. Kurz und klar war auch die Lösung: alles war spiegelverkehrt anzubringen und nur die vier kleinsten Glocken hatten im Zentrum zu bleiben, wo sie waren, nämlich vor den Augen des Glöckners.

Geduldig warteten die Täuflinge und ihre Eltern. Ich rief noch Valera Jurtschenko an, um ihm zu sagen, der Plan liege als Fax auf dem Bürotisch. Mit einem roten Filzstift umrandete ich die vier kleinen Glocken und schrieb dazu: “bleibt”. Das Wort “Osten” hatte ich bereits früher durchgestrichen und zu “Westen” korrigiert, mit dieser Interpretation war eine weitere Fehlerquelle entstanden, die ich gar nicht bemerkt hatte. Die Hauptsache aber: ich schrieb in der zweiten Hälfte des Faxblattes aus Moskau “Den Rest spiegelverkehrt umsetzen!”.

Es folgte das für einen Priester gewohnte: Taufen, Beichten der Taufpaten und Eltern, Religionsunterricht, Panichida, Beichten, die Vigil zum Sonntag... Alles wie immer und die ruhige Gewißheit, daß oben auf dem Glockenturm alles vorbereitet sein wird, denn morgen nach der Liturgie findet die Glockenweihe statt. Nach der Vigil wieder Beichten bis spät, morgens die Proskomedie, dann die Liturgie – schnell wurde noch das Problem der Lautsprecher “gelöst” (oh weh, ohne deren Gekrächze bei der Weihe, wäre es wohl schöner gewesen!), die Frage, ob die Fahnen hinausgetragen werden sollen? Die Bannerträger gehen hinaus, Chor und Priesterschaft folgen...

Vor dem Hauptportal über dem Platz hängt unser Riese, der “Hundert-Pudi” am Stahlseil, das vom hocherhobenen Arm des Kranes herunterreicht. Der Klöppel ist im Inneren befestigt (übrigens wird der Klöppel auf Russisch “jazyk” –“Zunge” genannt, was die Glocke sehr lebendig macht). Der Gottesdienst beginnt mit dem Segensausruf, dann beginnen die Psalmlesungen, in denen auch die Verse vorkommen, mit denen die Glocken verziert sind. Ich hebe meine Augen zur Glockenebene empor. Valera und Vater Georgij befestigen dort im nördlichen Zwischenraum über dem diagonalen Stahlbalken den Flaschenzug mit den Spezialbändern. Der Kran steht auf der Nordseite der Kirche. Ganz langsam, aber unwiderstehlich wie ein Panzerfahrzeug überfährt mich der Gedanke: “Sie wollen die große Glocke in den Nordteil heben? Was ist los?” Ich mache Zeichen: Komm herunter! Valera versteht nicht gleich, was ich will. Die Psalmenlesung rinnt dahin, wie die Zeit selbst. Wieder schweigend mit den Händen: Komm herunter! Endlich sehe ich über und zugleich hinter der Menschenmenge den Lockenkopf unseres zwei Meter großen Valera vorüberziehen, er sucht das Volk zu umgehen. Endlich steht er neben mir.

– Wollt ihr etwa die große Glocke dort in den Zwischenraum hängen?

– Ja, so wie auf dem Plan. – Valera zieht den Plan aus der Tasche.

– Und hier, – ich zeige auf den herausschauenden roten Text “Den Rest” und öffne die zweite Hälfte des Blattes, – hast Du das gelesen?

– Habe ich nicht.

Alles klar. Aus irgendeinem Grund war das Faxblatt gefaltet und die zweite Hälfte, obwohl der rote Text herausschaute, blieb unbemerkt, ungelesen. Außerdem zieht der technisch orientierte Intellekt wohl generell den Plan der “Literatur” vor, so daß ein Blick auf den Plan, wo Osten zu Westen wurde und die kleinen Glocken “belassen” werden sollten, sich selbst genügte. So befanden wir uns nunmehr nicht auf dem Papier, sondern in der Realität in der spiegelverkehrten Welt einer falschen Glockenverteilung. Wohl dem, für den eine Firma alles erledigt, der sich beschweren und Garantieansprüche anmelden kann... Wohl dem? Oder waren wir nicht doch die Glücklicheren? Es gab da einen Moment, als Valera noch nicht hinabgestiegen war, da kam mir der Gedanke: “Vielleicht nicht einmischen, so lassen, wie es ist?” Aber es war sofort klar, daß ich mir zeitlebens nicht werde vergeben können, jedes Mal, wenn ich zur Kirche käme, würde ich die Glocke auf der falschen Seite sehen, denn das ist ja – ein für alle Mal. Also blieb nur noch die Frage:

– Könnt ihr jetzt die Befestigungen umhängen, sofort?

– Kann man machen. Wir werden uns Mühe geben, –sagte Valera, und eine halbe Minute später wohl sah ich ihn bereits oben... Ich trete vor, neben unseren Protodiakon, der bereits im getragenen Baß die große Fürbitte begonnen hat, und sage deutlich direkt in sein Ohr: “Lang-sa-mer bit-te!” Protodiakon Georgij nickt verständnisvoll, aber ob er verstanden hat, warum es plötzlich notwendig ist, den Gottesdienst in die Länge zu ziehen, das weiß ich bis heute nicht.

Oben auf den Balken des Glockenturms begann ein eiliges Geturne. Für den, der Bescheid wußte, war das das schnellste und zielstrebigste Versetzen der Glockenbefestigungen. Ich denke, keiner von den Gästen und Gläubigen hatte bemerkt, was in den Minuten der Weihe der größten Glocke da oben und, erst recht, was in gewissen kurzen Momenten in unseren Herzen vorging. Aber waren das nicht nur winzige Wellen an der Oberfläche eines tiefen Sees? Jedenfalls war das Ganze ein einziges Wunder Gottes, an dem wir staunend teilnehmen durften. Und so vollzog sich die Weihe des “Künders” in großer Ruhe und Feierlichkeit.

Der erste Klang. Mit diesem hat sich der Künder in meiner Seele selbst benannt nach der Ikone des Heiligsten Patriarchen Tichon, des Bekenners, der die Kirche in den ersten 8 Jahren der gottlosen Machthaber leitete, einer von den vier. Also “Tichon” – diese in sich selbst ruhende Gewißheit, die sichere, durchdringende Treue und samtfarbene Weichheit des Klanges war es, die dieses Gefühl hervorrief. Erst zwei Tage später kam die Frage in mir auf, warum war denn auf dieser Glocke überhaupt der Patriarch Tichon? Laut Bestellung sollte außer der Gottesmutter und Christus zum Hl. Nikolaus hier der Zar-Märtyrer Nikolaus kommen! Eine Antwort gibt es nicht. Aber Fragen wäre jetzt durchaus überflüssig. “Tichon” ist sein Name. So mußte es sein. Sind all das “Fehler” oder eher “Gottesworte”, die an uns gerichtet sind – echte Ereignisse. Wievielen derartigen “Gottesworten” (“Fehlern”?) begegnen wir Tag für Tag!

So erklärt sich, warum die “Glockenzunge” sogleich wieder herausgenommen und die zweite Glocke geweiht, die entsprechend der richtigen Verteilung auf der Nordseite gehoben wurde, wo der Kran stand, warum es in der offiziellen Mitteilung (s. unten) heißt, daß dies “aus technischen Gründen” so ablief. Aber das war durchaus besser so, weil sich sogar bei der Befestigung der halb so großen Glocke genügend Probleme ergaben. So war es gut, daß der Künder-Tichon erst am Abend als der letzte der Großen erhoben wurde. Zu diesem Zeitpunkt war die Erfahrung bereits erworben.

Ursprünglich dachten wir, daß Umfang und Höhe des “Sto-Pudowik” 1760 mm sein würden. Tatsächlich wurde er kleiner - 1430 mm. Aber noch bevor er gegossen war, wurde diskutiert, wie wir die Rillen in den Säulen des Glockenturms aufschlagen würden, um die Glocke hineinzuziehen. Jetzt ist klar, daß die Probleme wegen der Höhe der Glocke unvergleichlich größer gewesen wären. Als wir am Abend so weit waren, war das ein hervorragendes Schauspiel (der Autor war auf der Glockenebene), als gemäß den über Funk übermittelten Angaben von Mönch Georgij der Arm des Krans millimeterweise den Künder in den Zwischenraum zwischen den Säulen hineinschob, dann sich wieder etwas nach unten zurückzog und die Glocke nach oben zog, unter dem hölzernen Balken hindurch, der den Raum oben begrenzt. Das war Kunst, die der Kranführer Pavel Smirnow an den Tag legte in Zusammenarbeit mit Vater Georgij oben, der statt der Augen fungierte. Aber all das war später.

Jetzt muß für die Geschichte auch folgendes noch angemerkt werden, wonach diejenigen fragen, die auf den Glockenturm steigen und sich die Glocken oben anschauen: Warum ist am Rand des Künders-Tichon ein kleines Stück weggeplatzt. Das geschah auf dem Platz gleich nach der Weihe. Die Klöppel wurden herausgenommen, und der Kran begann unseren Riesen wieder auf die Holzbalken herabzusenken. Die Glocken standen auf dem Vorplatz ziemlich eng beieinander, und hinter der großen Glocke konnte der Kranführer nichts sehen, ich aber konnte wegen der mangelnden Erfahrung die Situation nicht voraussehen und, vor allem, “rechtzeitig”, d.h. ca. drei Sekunden vorab das Stopp-Signal geben. Deshalb senkten sich einhundert Pud unerwartet und unaufhaltsam auf den Rand einer kleinen Glocke. Zum Glück gab der Kleinere nach und bewegte sich fort ohne Schaden zu nehmen, aber bei “Tichon”, der sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Holzbalken setzte, brach eine kleine Ecke des Randes ab. Das fehlende Stückchen spielt beim Klang keine Rolle (keine Konkurrenz zur Zaren-Glocke im Kreml). Aber es war sicherlich ein gefährlicher Augenblick. Die Folgen entdeckten wir erst, als der Künder bereits oben hing.

Und noch eine Kleinigkeit für den Historiker, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen: Kirchenslawisch steht auf der “Tichon”-Glocke, sie sei im Jahre /BA gegossen, was bedeutet 2001. Tatsächlich ist das Jahr wegen der Verzögerungen 2002, nur ist niemand darauf gekommen, den einmal angegebenen Text abzuändern.

Und nun wollen wir wieder zu unserer durchaus wahrheitsgemäßen, wenngleich nicht ganz vollständigen offiziellen Mitteilung zurückkehren. Diese lautet weiterhin so:

“Mit der Hilfe Gottes und Dank des Einsatzes von Mönch Georgij aus dem Kloster des Hl. Hiob von Pocaev (München) sowie Valerij Jurtschenko, waren die Glockenbefestigungen rechtzeitig fertiggestellt, ein Kran war vorhanden und die Glocken konnten am 1. Dezember gehoben werden. Die Glockenweihe wurde zu einer großartigen, unvergeßlichen Feier für die Münchner Gemeinde und alle Teilnehmenden, von denen viele – unter anderem auch die offiziellen Vertreter – nur wenige Tage vor dem Ereignis davon erfahren hatten.

Nach der sonntäglichen Liturgie weihte Erzbischof Mark in Konzelebration mit Erzpriester Nikolai Artemoff, dem Stavrophoren Erzpriester Slobodan Milunovic als Vertreter des Bischofs Konstantin von der Serbischen Orthodoxen Kirche, Priestermönch Nikon, den Priestern Nikolaj Chibalkov und Georg Seide, Protodiakon Georgij Kobro und Diakon Alexander Koval die Glocken auf dem Platz vor der Kirche.

Die Künder-Glocke hing bereits über dem Platz mit dem eingesetzten Klöppel. Der Gottesdienst beginnt mit den Lobespsalmen, deren Verse auch auf den Glocken abgebildet sind. Nach dem Weihegebet und der Besprengung einer jeden Glocke mit Weihwasser von allen Seiten und von Innen erfolgten je drei Glockenschläge, wonach die Glocken mit einem Kran auf die Glockenebene gehoben wurden. Kranführer war ein orthodoxer Russe, der Knecht Gottes Pavel. Den Chor leitete V. V. Ciolkovitch. Die Wintersonne wärmte nicht. Der Dirigent mit den Sängern legte eine große Ausdauer an den Tag, da die Zeremonie ziemlich lange dauerte, wobei es kalt war. Aber im Unterschied zum vorherigen und zum nachfolgenden Tag, an denen es regnete, leuchtete über den Gläubigen ein klarer blauer Himmel, was als Segen Gottes empfunden wurde.

Aus technischen Gründen wurde darauf verzichtet, die Hebung und Befestigung mit dem Künder zu beginnen. Er wurde auf die Erde zurückgesenkt, wobei vier Personen benötigt wurden, um den Klöppel zu entfernen. Dann wurde die zweite Glocke geweiht und an ihren Platz gehoben. Die Erhebung des Künders folgte erst gegen fünf Uhr abend. Hier bestand die Schwierigkeit darin, daß rechts und links von den Säulen der Glockenebene gerade einmal ein halber Zentimeter Platz war, um die Glocke hineinzuschieben, und dann mußte sie von Flaschenzügen übernommen und nach oben zum Stahlträger gehoben und endgültig festgemacht werden...

Als alle Glocken geweiht, obgleich noch nicht gehoben waren, lud die Gemeinde die Gäste zum Empfang in den Saal. Beim Empfang sprachen einige offizielle Gäste Grußworte, so Erzpr. Slobodan Milunovic von der Serbischen Kirche, Thomas Prieto-Peral als Vertreter des evangelisch-lutherischen Landesbischofs, Beatrix Zurek als Vertreterin des Oberbürgermeisters von München und Georg Eisenreich als Vertreter des Bundesvermögensamtes sowie der Generalkonsul der Russischen Föderation Lev N. Klepatski. Die örtlichen Vertreter der katholischen und evangelischen Kirchen waren zugegen. Grußworte und gute Wünsche kamen vom Erzbischöflichen Ordinariat, dessen Vertreter Prälat Lothar Waldmüller wegen der Kurzfristigkeit der Einladung nicht teilnehmen konnte. Bei der Glockenweihe selbst, war der Vertreter der griechichen Metropolie des Patriarchats von Konstantinopel, Pfarrer Apostolos Malamoussis anwesend. Es gratulierten die “Freunde der internationalen Partnerschaft”, eine Organisation, die sich die Förderung partnerschaftlicher Beziehungen mit Städten und Gebieten anderer Länder zu Bayern zum Ziel setzt.

In den darauffolgenden Tagen erschienen Artikel mit farbigen Fotos über die Glockenweihe in der Presse – in der Süddeutschen Zeitung, dem Münchner Merkur, der Tageszeitung sowie verschiedenen Provinzzeitungen.

Dieses Fest der russischen Orthodoxie in München, Bayern und Deutschland wird für immer bleiben in zahlreichen Herzen”.

Epilog:
Zum “Orthodoxen Treffen” mußte die Glockenebene endgültig eingerichtet werden, d. h. der Platz für den Glöckner (ein hölzernes Podest) mußte geschaffen, und sämtliche Züge von den Glocken mußten zu diesem Platz in der richtigen Weise geführt werden.

Die beiden größten Glocken werden mit Pedalen betätigt, aber sowohl in diesem Fall als auch bei den anderen größeren Glocken darf der Seilzug nicht direkt zum Glöckner geführt werden. Der Zug wird zu einem beliebigen günstigen Platz über der Glockenebene geführt und dort, sei es an der Wand, in der Decke, oder an einem Balken befestigt. Der zum Glöckner führende Seilzug muß, wegen der Leichtigkeit des Anschlags, nach Möglichkeit in der Mitte des befestigten Seilzugs angebracht werden, was an den Effekt einer Saite in einem Musikinstrument erinnert. Zugleich befindet sich der Platz des Glöckners in unserem Fall praktisch direkt unter der dritten Glocke, sämtliche Seile und Züge aber müssen nahe genug beieinander sein, damit es für den Glöckner bequem ist, sie zu erreichen. Aber es darf keinerlei Berührungen der Seile beim Spiel geben (es wird ja gewissermaßen an den riesigen Saiten gezupft), ebenso wie Berührungen mit den Glocken oder an die Wand oder einen Balken ausgeschlossen sein müssen. Alle diese Bedingungen gleichzeitig zu erfüllen, ist gar nicht so einfach, ja eine schier unlösbare Knobelaufgabe.

Im Fall unseres Glockenturmes wurde die Aufgabe noch kompliziert dadurch, daß – wie sich herausstellte – beim bequemsten Zuleiten des Zuges von der Künder-Glocke her diese begann, den Stahlträger aufzuschaukeln, der zwar aus T-Stahl, aber doch auch elastisch ist. Der Träger ist mit einem Gummi in der Wand ummantelt, damit der Anschlag nicht an die Wand weitergegeben wird. Wohlbekannt ist das unangenehme Resultat, daß man in der Kirche nicht die Glocke hört, sondern nur den Schlag in der Wand, als sei es ein schwerer Hammer. Dies konnte in München durch die Isolierung der Balken sowie die konsequente Trennung des Turms vom Hauptgebäude (5 cm schallisolierter Zwischenraum) völlig ausgeschlossen werden. Aber negativ war nicht nur die Bewegung des Balkens in der Wand, sondern vielmehr noch eine, wenn auch nur geringe Bewegung des Stahlträgers in sich selbst, was beim Auftreten des Resonanzeffekts, d.h. einem Aufschaukeln, auf Dauer nicht ungefährlich ist. So war es notwendig geworden, den Stahlseilzug so zu führen, daß die Glocke sich nicht mehr quer zum Balken bewegt. Das konnte nur dadurch gewährleistet werden, daß der Klöppel sich genau entlang dem diagonal liegenden Stahlträger bewegt. Daraus folgte, daß der Seilzug nur zu einer der an der Diagonale liegenden Säulen geführt werden konnte, und dann mußte man weitersehen... Entweder mußte man das Seil über ein Rad weiter zur Decke der Glockenebene laufen lassen, oder aber irgendwie zu Seite, aber wohin und wie? Hierbei war zusätzlich zu bedenken, daß der Seilzug, der zum Pedal des Glöckners führt, möglichst genau in der Mitte ansetzen muß. Zugleich dürfen beide Seilzüge weder die in der Mitte über dem Glöckner hängende drittgrößte Glocke berühren, noch irgendwelche anderen Seile. Die Lösung war: der Seilzug vom Pedal führt zur Decke seitwärts an der Mittelglocke vorbei und kehrt über ein Rad an der Decke wieder zurück, um über der mittleren Glocke die durch die gesamte Glockenebene querverlaufende Saite (vom Klöppel der Künder-Glocke, über ein Rad an der Ostsäule hinüber zum entferntesten Nord-Balken) zu greifen und nach oben zu ziehen! Nur so gelang es, allen eventuellen Berührungen aus dem Weg zu gehen.

Vergleichbare Probleme der Seilführung gab es insgesamt neun, denn nur die kleinen, vor den Augen des Glöckners befindlichen Glocken werden mit der rechten Hand (Seile zwischen den Fingern) direkt geläutet. Es ist wohl schwer, sich – ohne es in der Wirklichkeit gesehen zu haben – das Spinnennetz vorzustellen, das da oben als optimale Lösung entstanden ist. Insgesamt wurde mehr als eine Woche für die Erstellung des Glöckner-Platzes gearbeitet. Aber erfahrene Leute sagen, daß die Glocken jetzt erst einmal zwei Jahre hängen und geläutet werden sollten, um in den ihnen eigenen Ton hineinzuwachsen, der sich noch entfalten wird. Zum zweiten würden mit den Jahren immer wieder neue Lösungen sich entwickeln, aus der Praxis heraus. Jedes Glockenspiel ist ein einzigartiger Organismus, ein feines Instrument, welches den Glöckner in seiner Entwicklung mit einschließt. Jeder Glöckner, der mit dem gegebenen Glockenspiel verwächst, wird seine Art zu spielen entwickeln und entsprechend die Glockenebene neuordnen, indem er sich einpaßt. Diese Feinarbeit steht bevor. Das Aufhängen der Glocken war keineswegs ein Endpunkt der Entwicklung, sondern nur ein erster Anfang. Somit steht uns das Eigentliche erst noch bevor und der Glockenturm beginnt sein Leben überhaupt erst jetzt.
Nun mag man sich fragen, was soll ein solcher Bericht, der Fehler und Unaufmerksamkeiten, wenn nicht gar unsere eigenen Dummheiten offenlegt. Hätte man das nicht alles viel besser, effektiver organisieren können, ja müssen – was sollen diese vielen Unzulänglichkeiten (von denen so manche noch nicht einmal beschrieben werden konnten, allein aus Platzmangel!)? Die Antwort gab einer von denen, die sich da oben mühten: Solange alles nach Plan läuft, sind wir mit uns selbst ziemlich allein, – aber dann, wenn wir gezwungen werden, die Dinge abzuwandeln, nachzuarbeiten, wenn plötzlich alles anders ist, als vorgesehen, dann erst fängt das Gebet so richtig an. Diese Einsicht hat uns unser Glockenturm, den wir aus den Händen Gottes empfangen haben, kräftig aufleuchten lassen. Wir wollten sie mit dem Leser teilen.
Erzpr. N. A.